Lokaltermin beim Förderverein „Organum gruningense redivivum – die Michael Praetorius Orgel für St. Martini in Halberstadt“ e. V., 5. Mai 2018
Als legendär, aber für immer verloren, galt auch die Dresdener Frauenkirche. Passionierte aus aller Welt wurden jedoch aktiv, um das verlorene Zeugnis von Geist, Sinn und Sinnlichkeit gegen die Stimmen der scheinbar Vernünftigen wieder auferstehen zu lassen..
Legendär ist auch die Gröninger Orgel. Sie gilt als Kunstdenkmal ersten Ranges im Welterbe der Musikgeschichte. Das Instrument ging jedoch schon vor mehr als 200 Jahren verloren. Nur der überwältigende Orgelprospekt, ein einzigartiges Zeugnis der Spätrenaissance bzw. des Manierismus, blieb erhalten. Der Orgelbauer Julius Beck schuf die Orgel von 1592 bis 1596 im Auftrag von Heinrich Julius, Bischof zu Halberstadt und Herzog von Braunschweig und Lüneburg für die Kapelle von Schloss Gröningen bei Halberstadt. Später übernahm der berühmte Orgelbauer Esaias Compenius die Verantwortung für die Orgel. Michael Praetorius beförderte den Ruhm des Instruments als außergewöhnlicher Musiker, Komponist und Theoretiker. Umfassendes Wissen über die Konzeption der Orgel hinterließ außerdem der Kenner und Sachverständige Andreas Werckmeister. Er legte 1704 einen Bericht von der spektakulären „Orgeltagung“ vor, an der 1596 mehr als fünfzig namhafte Organisten ihrer Zeit teilnahmen und ihr fachliches Urteil formulierten.
Im Jahre 1770 ging das berühmte Instrument mit dem Niedergang der Sommerresidenz Gröningen verloren. Es lebt jedoch bis in unsere Zeit im reichen Fundus historischer Schriftzeugnisse fort. Nur der überwältigende Orgelprospekt zieht noch jeden Betrachter in seinen Bann. Er wurde nach 1770 auf Drängen des preußischen Königs Friedrich II. in die Halberstädter Martinikirche überführt. Das reich gestaltete Rückpositiv der Gröninger Orgel kam in die Dorfkirche von Hamersleben und harrt dort der kommenden Wiedervereinigung zu einem Instrument in Halberstadt.
Nun wollen Orgelwissenschaftler, Orgelbauer, Organisten, Kunsthistoriker, Kunst- und Musikfreunde sowie Denkmalpfleger aus ganz Europa das legendäre Renaissanceinstrument mit seiner einzigartigen Klangkultur wieder auferstehen lassen. Deutsche und französische Partner, darunter der Organist Jean Jacque Ablitzer, übernahmen die Initiative. Ein Förderverein ist mittlerweile aktiv für das Wiedererstehen des außergewöhnlichen Projekts.
Wie anspruchsvoll mag der historisch getreue Bau eines Renaissanceinstruments mit 59 Registern sein, von dem keine Tonkonserven, materialwissenschaftlichen Expertisen, Berechnungen, Baupläne, Konstruktionsprinzipien, Fotodokumentationen und ähnliches existieren? Laien können kaum ermessen, wie dieses Wunder gelingen kann. Ein verwandtes Instrument aus derselben Epoche erlaubt Analogieschlüsse und hilft bei der archäologischen Spurensuche nach Bauprinzipien und Klangfarben. Es ist die berühmte Compenius-Orgel in Schloss Frederiksborg(DK). Wertvoll sind auch die Erfahrungen von der Wiederherstellung der Lemgoer Schwalbennestorgel aus der Renaissancezeit.
Der Förderverein hatte am 5. Mai 2018 zu seiner Jahrestagung geladen. Am Anfang stand der Vortrag neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse zur künstlerischen Gestaltung des Gröninger Orgelprospekts. Die Kunstwissenschaftlerin Dr. Dorothea Schröder referierte über „Engel, Satyrn und viele Rätsel: Kunsthistorische Gedanken zum Gröninger Orgelprospekt“. Die Spurensuche zur Klärung von figürlichen, ornamentalen, metaphorischen und symbolhaften Ideen, Ursprüngen, Deutungen und Analogien führten bis in den Vatikan. Mit Spannung wird die Publikation dieser kunsthistorischen Erkenntnisse erwartet. Anschließend gab der Orgelwissenschaftler und -planer Koos van de Linde einen Einblick in den Stand der technisch-naturwissenschaftlich überaus ambitionierten Analysen, Berechnungen und Planungen zur Wiedererrichtung der monumentalen Orgel. Mit archäologischer Akribie werden an Orgelprospekt und -gehäuse kleinste Spuren im Holz aufgespürt und gesichert, um daraus Kenntnisse über den inneren Bauplan des historischen Instrumentes abzuleiten.
Eingebettet in den reichen Programmtag wurde die Jahreshauptversammlung des Vereins. Zu den bemerkenswerten Berichten gehörte der über das beauftragte Coaching einer renommierten Fundrising-Agentur. Für die Wiedererstehung der Gröninger Orgel in der Martinikirche sind nämlich 4 Mio EUR zu mobilisieren.
Keine Orgeltagung ohne Musik. So erklangen während der musikalische halben Stunde am Mittag Orgelimprovisationen und ein neu erbautes Clavioganum der Halberstädter Orgelbaufirma Hüfken. Abends musizierten Koos van de Linde am Cembalo und Domorganist Claus Erhard Heinrich an der Orgel.
Mit einem Rundgang wurde am Nachmittag eine Ausstellung in der Martinikirche eröffnet. Schautafeln zeigen die Planung und Wiedererrichtung der Lemgoer Schwalbennestorgel aus der Renaissancezeit und die Analogien zur Planung und Wiederherstellung der Gröninger Orgel. Schritt für Schritt kommt man nun auch den ersten Visualisierungen des künftigen Instrumentes näher. Und jedermann konnte sich aus nächster Nähe im Wimmelbild der Figuren, Formen und Farben des sagenhaften Orgelprospekts verlieren.
Dass Halberstadt eine außergewöhnliche Orgelstadt ist, das wissen die Kenner in aller Welt. Man versteht hier etwas von Ausnahmeprojekten. Davon erzählen das John-Cage-Projekt ORGAN2.ASAP und das Projekt Organum gruningense redivivum. Beide gehören für die Orgelbegeisterten zusammen: die Expedition in die Zukunft 2640 und die Expedition in die Vergangenheit um 1596, um das legendäre Instrument in unsere Zeit heim zu holen.
Fotos: wikipedia